
In der jüngeren Vergangenheit hat der Dreipunktwurf den Basketball revolutioniert und die NBA in ihren Grundfesten erschüttert. Der Jubel über immer größere Offensivexplosionen klingt zuletzt aber merklich ab, dafür wird Kritik am inflationären Gebrauch des Dreiers laut. Hat die NBA damit einen Kipppunkt erreicht?
Text: Moritz Wollert
Es ist vermeintlich eine Szene, die zum natürlichen Ablauf eines Basketballspiels dazugehört. Wenn die Defense ihre Hände an den Ball bekommt und ihn per Steal erobert, gelingt es ihr nicht gerade selten, im Fastbreak einen numerischen Vorteil in Form der viel zitierten Überzahl zu schaffen. Der ballführende Spieler dribbelt nach vorne, neben ihm leicht versetzt einer seiner Teamkameraden. Gemeinsam steuern sie auf einen einzigen hilflosen Verteidiger zu, den sie eigentlich mit einem einfachen Pass überspielen und per ungefährdetem Layup oder Dunk abschließen könnten. Ein simples Give-and-Go, ein Drop-Off oder auch der angetäuschte Pass vor dem anschließenden Weg zum Korb – es ist seit Jahrzehnten Formsache, ein Stück uralte Basketballschule, unzählige Male geübt und in sich so simpel in seiner Ausführung. Bis es dann irgendwann einfach nicht mehr das war, was es einmal war. Denn plötzlich verlangsamt der ballführende Spieler seinen Lauf, kommt an der Dreierlinie zum Halten. Dann geht er hoch und lässt den Ball fliegen. Wenn er es nicht tut, findet sein Pass den Mitspieler, der allerdings nicht etwa in Richtung Korb gecuttet ist, sondern sich ebenfalls weit hinaus in Richtung Dreipunktlinie abgesetzt hat, um von dort aus sofort abzudrücken. „Und er geht hoch für drei Punkte“, spricht die Stimme von NBA-Top-Kommentator Mike Breen ins Mikrofon, ein leichter Hauch eines Seufzens schwingt hinter seinen sonoren Worten mit. „So ist es heute nun mal, so verhält es sich in der neuen NBA.
Den Fluss überquert
Breen stellt in seiner typischen Zurückhaltung nur wertfrei fest, er beschreibt etwas, was viele Menschen seit etlichen Jahren bereits spüren. Dass die NBA sich verändert, gehört zum Leben der Liga dazu, wenn nicht von Tag zu Tag, ganz sicher von Jahr zu Jahr und über deutlich erkennbare Epochen. Jene Evolution erlebte in der jüngeren Vergangenheit scheinbar eine ihrer revolutionärsten Zeiten, einen Punkt, an dem sie einen ganz persönlichen „Rubikon überschritten hat“. Diese alte Redewendung aus der Römerzeit verweist auf eine unumkehrbare Entwicklung, welche die NBA vermeintlich in ihrer neugefundenen Konzentration auf den Dreipunktwurf erfahren hat. Jene vor knapp 15 Jahren einsetzende Verschiebung spielerischer Philosophie ließ die Anzahl von Dreiern in die Höhe schnellen, brachte niemals für möglich gehaltene Punkterekorde, Spacing im Überfluss sowie eine quasi gänzliche Neuordnung von Raum und Zeit im Basketball. Inmitten dieses vermeintlichen Aufbruchs in eine Moderne, welcher die Association laut einhelliger Meinung der Ligaoberen aus den Zeiten archaisch-körperbetonter Hardwood-Schlachten hinausführte, veränderte sich aber anscheinend so viel, dass selbst ein neutraler, jovialer Ligabeobachter wie Mike Breen das Spiel als solches nicht mehr wiedererkennt. Und so geht es noch Millionen anderen.

Andernfalls hätte das Thema Dreipunktwurf niemals einen derart gewaltigen Sturm in den Medien generiert, wie es das in den vergangenen zwölf bis 24 Monaten getan hat. Unter anderem diskutierten schon Charles Barkley sowie Shaquille O’Neal bei „Inside the NBA“ kontrovers über die ausufernden Zahlen von Downtown, etliche andere Medienvertreter sehen in der Konzentration auf den Wurf von draußen ebenfalls eine reelle Gefahr für die Popularität der NBA. Es ist eine Feststellung, die durch unlängst veröffentlichte sinkende Zuschauerquoten nur noch befeuert wird. Meist sind es bei Diskussionen dieser Art über die Richtung des Basketballspiels verstimmte Sehnsüchte, die aus traditionsbewussten Puristen sprechen, meist lassen sich Störgeräusche durch einen Verweis auf unterschiedliche spielerische Geschmäcker wegwischen. Mit den Dreiern scheint es diesmal aber anders zu sein, da ist mehr – mehr Entrüstung, mehr Sorge, mehr Kritik. Vielleicht auch ein wenig mehr Angst darum, dass ein in sich für viele perfektes Spiel seinen Kompass verliert und auf einen Eisberg der Unkenntlichkeit zusteuert.
Taktische Revolutionen
Das von vielen Fans und Zuschauern gespürte subjektive Gefühl, welches in durchschnittlichen NBA-Partien immer öfter einen monotonen Dreipunktewettbewerb verortet, spiegelt sich auf den ersten Blick in den Zahlen wider. In der Saison 2011/2012 nahmen NBA-Teams im Durchschnitt 18,4 Dreier pro Partie, in der aktuellen sind es mit 37,6 Würfen mehr als doppelt so viele. Der Prozentsatz an der Gesamtzahl der Würfe hat sich ähnlich entwickelt und liegt nach rund 22 Prozent im Jahr 2010 mittlerweile bei fast 40 Prozent, bei manchen Teams sogar weit darüber. Noch immer zeigen sich die Auswirkungen einer einstigen analytischen Studie, die bei durchschnittlichen Ligawurfquoten dem Dreier einen weitaus höheren Stellenwert beimisst als einem Sprungwurf im Zweierbereich. Das frühere Midrange-Game verschwand damit fast komplett aus dem Basketball, die Verteidigungen wurden durch immer mehr und bessere Schützen bis an ihre Grenzen auseinandergezogen. Innovativere Konzepte wie der Tempobasketball der Golden State Warriors oder die jüngsten Five-Out-Offenses der Boston Celtics machten Schule und fanden etliche Nachahmer. In Kombination mit immer offensivfreundlicheren Regeln entwickelte sich ein nahezu perfekter Sturm, der es den Teams mittlerweile ermöglicht, ungeahnte offensive Höhen zu erreichen. Die zehn besten Offensive Team Ratings der neuzeitlichen NBA-Geschichte stammen allesamt aus den letzten vier Jahren, die für einen Moment als beste aller Zeiten gesehene Offense der Golden State Warriors von 2017 ist statistisch jetzt schon um Längen überholt.
Manch einer mag sich die Frage stellen: Was ist denn daran schlimm? Ist es nicht begrüßenswert, wenn die Liga sich natürlich weiterentwickelt und wenn neue Zeiten neue Spielformen offenbaren? Schließlich gab es ja auch mal eine Zeit, in der man von dem Dreipunktwurf an sich nichts wissen wollte, bevor er mit seiner Einführung 1979 dem Basketball eine komplett neue, richtungsweisende Dimension gab. Die Antwort auf jene Frage muss differenziert betrachtet werden. Natürlich gehören Veränderungen zum Basketball dazu, erst recht, wenn sich das Spiel quasi selbst immer wieder neu erfindet und die Evolution komplett von innen heraus passiert. Erstens ist dem aber nicht so bei der modernen Dreierrevolution und zweitens scheint es, als ob wie auch bei vielen anderen Entwicklungen in der Vergangenheit ein Punkt erreicht ist, wo sich das von der Leine gelassene Spiel selbst schadet. Mit etlichen Regeln wie der „freedom of movement“ oder auch einer kompletten Ignoranz gegenüber deutlichen Schrittfehlern im modernen Ligabetrieb schaffte die NBA ein Umfeld, das die jüngsten offensiven Meilensteine extrem begünstigt hat. Es war einst eine Reaktion auf ein zu physisches Spiel Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre und als solches auch deutlich von den Commissionern David Stern und Adam Silver als solches formuliert. Brachten die Maßnahmen anfangs noch den gewünschten Erfolg, so hat der Dreipunktwurf die Liga mittlerweile aber tatsächlich an einen Kipppunkt gebracht, der für nicht wenige das Spiel auf gewisse Weise pervertiert.

Anthony Edwards braucht im Schnitt nur zweieinhalb Versuche für einen Treffer von „Downtown“.
Not macht erfinderisch
Optische wie statistische Evidenz ist dafür gerade in der Gegenwart schnell gefunden. Kritiker verweisen auf etliche Spiele wie zum Beispiel eine Partie zwischen den Boston Celtics und den Chicago Bulls Ende November, in der die Mannschaften den Ball zusammen 106 von Downtown fliegen ließen. Aus einem Basketballspiel wird in den Augen mancher ein reiner Dreipunktwettbewerb, alles steht und fällt mit dem Händchen von draußen. Dabei gehen Abwechslung sowie oft Qualität verloren. Auf jedes gut geölte Team voller Scharfschützen wie Boston oder Cleveland kommen etliche mittel- bis unterklassige Mannschaften wie Charlotte oder Brooklyn, die aufgrund des Zeitgeistes ebenfalls dem spielerischen Götzen hinter der Linie huldigen, auch wenn ihr Personal überhaupt nicht dafür ausgelegt ist. Profis verkommen teilweise zu statischen Wurfmaschinen, Skills variieren kaum noch und ganze Teile des Courts verlieren komplett an Bedeutung. Und das Resultat davon sind immer öfter verprellte Zuschauer, die sich vielleicht nicht gleich abwenden, die aber in ihrem Herzen etwas an dem Spiel vermissen, was sie einst gebannt hat.

Genau aus diesem Grund und den damit verbundenen ökonomischen Folgen für die NBA dürften in so manchem Ligabüro bereits die Köpfe heiß laufen, wie man das Ruder in Sachen Dreipunktwurf wieder herumreißen kann. Allerlei vermeintlich abstruse Ideen geistern durch die Welt, wie eine nach hinten verlegte Wurflinie, ein Vier-Punkt-Wurf oder gar eine maximale Anzahl erlaubter Dreier. So skurril sie derzeit anmuten mögen, so sehr sollte man sich daran erinnern, dass es in der NBA-Geschichte immer großen Wandlungen gab, die man vorher als Hirngespinste abgetan hatte. Gleichermaßen ist es aber wohl so, dass eine weitreichende Veränderung des Courts oder der Regeln die Seele des Spiels eventuell sogar noch weiter aushöhlen würde und den Basketball noch weiter von seinem einstigen Kern entfernen würde. Vielmehr dürfte der Weg für die Liga darin liegen, bestehende Regeln konsequenter durchzusetzen und gleichermaßen durch punktuelle Regelanpassungen den Verteidigungen nach vielen Jahren wieder etwas Unterstützung zu geben. Der dritte und oft sogar vierte Schritt wird im modernen NBA-Basketball kaum abgepfiffen, dazu dürfen viele Guards den Ball doch merklich länger „tragen“, als es ihre historischen Vorgänger tun durften. Somit wird man einen Dreipunktwurf natürlich viel leichter los, somit lässt man eine Defense natürlich viel schneller kollabieren, um anschließend offene Schützen auf dem Perimeter zu finden.
Hoffnung auf Besserung?
Paart man das Durchsetzen bestehender Regeln mit der Erlaubnis von mehr Physis auf Seiten der Defenses, dürfte man relativ schnell positive Effekte bemerken. Der erste Schritt in diese Richtung ist bereits gemacht, denn die Liga schickte vor dieser Saison ein Memo an alle Mannschaften raus, dass wieder mehr physischer Kontakt durch die Verteidigungen erlaubt sein wird. Die Anpassungsphase daran für alle Beteiligten wird dauern, ebenso wie es bei jeder neuen Regelveränderung der Fall sein würde. Auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Sport ändern sich fast jährlich. So besagt eine viel zitierte Studie von Shane Sanders und Jonathan Ehrlich vom Falk College of Sport and Human Dynamics (*mehr dazu im Zusatztext am Ende), dass der Dreier eigentlich schon in der Saison 2017/2018 keinen größeren Punktewert generiert, als es ein Abschluss innerhalb der „Arc“ tut. Man darf beide Bereiche dabei nie voneinander entkoppelt betrachten, schließlich beeinflussen sie sich gegenseitig und die Gefahr des Dreiers schafft gerade heute enorme Freiräume für offene Abschlüsse am Brett. Den positivsten Effekt hat aber wohl eine Balance zwischen beiden Bereichen, ein Drahtseilakt, den alle Mannschaften immer wieder mit sich ausmachen auf der Suche nach der effektivsten Offensive.

Die Zahlen für geworfene Dreier sind immer noch hoch und gerade Pullup-Würfe von Downtown haben zuletzt zugenommen, dafür hat sich die Kurve der Distanzwurfanzahl merklich abgeflacht und steigt nicht mehr ganz so rasant wie noch vor einigen Jahren. Gleichermaßen gibt es immer wieder Beispiele für Teams wie die Memphis Grizzlies oder die New York Knicks, die sich zwar des Dreiers als Schlüssel für ihre Top-Offensiven bedienen, ihn letztlich aber eher als Teil eines ausbalancierten Gesamtkonstrukts sehen. Gleiches passiert auf Seiten der Spieler, wo sich gerade die absoluten Top-Profis wie Shai Gilgeous-Alexander, Giannis Antetokounmpo oder Nikola Jokic über weit mehr definieren als über ihren Wurf von draußen. In den kommenden Jahren dürfte sich hier abermals ein spannendes Wechselspiel aus personeller wie philosophischer Anpassung und den von außen eingebrachten Impulsen der Liga herauskristallisieren, das einen nachhaltigen Effekt auf das Image des Dreipunktwurfs in der NBA haben wird. Das wird wohl nichts daran ändern, dass „der Rubikon überschritten ist“ und Spieler werden auch weiterhin einfach mal so beim Fastbreak von der Dreierlinie hochgehen. Doch man wird sich vielleicht wieder ein wenig mehr dem einst natürlichen Lauf eines Basketballs annähern, der eben nicht bloß ein glorifizierter Wurfwettbewerb ist. Der ausgewogener und damit attraktiver ist. Und den längst nicht nur Mike Breen irgendwie gerne bewahren möchte.
Zusatz: Die Ehrlich-Sanders-Studie
Die beiden Wissenschaftlicher Shane Sanders und Justin Ehrlich erforschten am Falk College of Sport und Human Dynamics den Wert eines Zweipunktwurfs im Verhältnis zu dem eines Dreipunktwurfs in der NBA. Fiel dieser Vergleich in der Vergangenheit noch vorteilhaft für die Variante von Downtown aus so hat sich die Ligalandschaft seit 2017 laut der Studie verändert. Ehrlich und Sanders beziffern den „True Value“ eines Zweiers mittlerweile bei 1.181 und den eines Dreiers bei „nur“ noch 1.094 Punkten. Diese Zahlen zeigen, wie viel Punkte ein Spieler tatsächlich mit den jeweiligen Würfen ausgehend vom Ligadurschnitt generiert. Es handelt sich hier aber nicht um ein entweder oder, sondern Ehrlich und Sanders untermauern, dass sich beide Würfe jeweilig gegenseitig begünstigen. Statistisch gesehen sollten gute Dreipunktschützen laut der beiden Wissenschaftler weiterhin viele Dreier werfen, doch er ist kein Allheilmittel, den jeder Spieler und jedes Team ohne Rücksicht auf Verluste einsetzen sollte.
Diese Story erschien zuerst in der BASKET 03/25.
Fotocredits: Getty Images
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